Kultursensibles Medizinrecht – Rechtliche Herausforderungen im Umgang mit soziokulturell bedingter Diversität in der Gesundheitsversorgung
Das schweizerische Medizin- und Gesundheitsrecht beruht auf dem Menschenbild des selbstbestimmten und rational handelnden Patienten. Dieser trifft nach hinreichender Aufklärung, gewissermassen auf Augenhöhe mit der Ärztin, auf der Basis einer kritischen Beurteilung der medizinischen Diagnose und einer sorgfältigen Abwägung von Nutzen gegen Risiken und Belastungen einer Behandlung oder Nichtbehandlung einen selbstbestimmten Entscheid über die Durchführung des medizinischen Eingriffs.In gleicher Weise legt er vorsorglich medizinische Massnahmen fest, die bei einer allfälligen künftigen Urteilsunfähigkeit zu treffen oder zu unterlassen sind.
Die Rationalitätszumutungen des geltenden Medizinrechts zeigen sich etwa im Konzept des «Informed Consent», dem rechtlichen Begriffsverständnis von «gesund» und «krank», rechtlichen Bewertungen von Nutzen und Risiken medizinischer Eingriffe, der Rechtsfigur der «hypothetischen Einwilligung» im Arzthaftungsrecht, dem Konzept des Hirntodes oder den gesetzlichen Normen zum Schutz der Privatsphäre von Patienten und ihren Angehörigen. Was dabei als rational oder verallgemeinerbar erscheint, ist seinerseits kulturell geprägt, was sich etwa bei den erwachsenenschutzrechtlichen Regelungen zu Stellvertreterentscheiden deutlich zeigt.
Das dem Medizin- und Gesundheitsrecht zugrundeliegende Menschenbild stimmt mit der Realität oftmals nicht überein. Im Fokus des vorliegenden Forschungsprojekts von Prof. Dr. Regina E. Aebi-Müller, Prof. Dr. Bijan Fateh-Moghadam und Prof. Dr. Bernhard Rütsche stehen Patientinnen und deren Angehörige, deren Wertvorstellungen und Bedürfnisse in Bezug auf die medizinische Versorgung von den Rationalitätsvorstellungen abweichen, wie sie unsere Rechtsordnung implizit voraussetzt. Solche als «irrational» oder «unvernünftig» erscheinenden Werthaltungen und Bedürfnisse können aufgrund von Traditionen und Weltanschauungen in der Herkunftsgesellschaft, Religionszugehörigkeit oder aus anderen Gründen soziokulturell geprägt sein. Zu denken ist etwa an Vorbehalte gegenüber bestimmten Medizinprodukten, metaphysische Vorstellungen von Krankheit und Tod oder Entscheidungszuständigkeiten innerhalb der Familie. Damit ist das Gesundheitssystem täglich - und aufgrund der globalen Migration sowie der Segmentierung von Wertvorstellungen und Lebensweisen in zunehmendem Mass - konfrontiert.
Häufig sind Patienten und ihre gesetzlichen Vertreterinnen, die den rechtlichen Unterstellungen rationaler Entscheidungsfindung nicht entsprechen, in ausgeprägtem Mass vulnerabel und diskriminierungsgefährdet. Die hier nur rudimentär skizzierten Problemfelder sind in der medizinethischen und sozialwissenschaftlichen Forschung sowie in der Pflegewissenschaft und Versorgungsforschung erkannt und vielfach beschrieben worden. Eine rechtswissenschaftliche Auseinandersetzung fehlt indessen bislang, wenn man von Abhandlungen zu punktuellen Fragestellungen (u.a. zur Verweigerung von Blutprodukten durch Zeugen Jehovas oder zur Notwendigkeit von Übersetzungen im Gesundheitsbereich) absieht.
Davon ausgehend untersucht das Forschungsprojekt mit seinen drei aufeinander abgestimmten Teilprojekten aus zivil-, öffentlich- und strafrechtlicher Perspektive, ob das geltende Medizin- und Gesundheitsrecht der Diversität soziokulturell geprägter Werte und Verhaltensweisen hinreichend Rechnung trägt und inwiefern in der Praxis der medizinischen Versorgung oder durch Anpassungen der Rechtslage Verbesserungen angezeigt sind. Dabei gilt es, die für diese Fragestellung relevanten Erkenntnisse aus der medizinethischen und sozialwissenschaftlichen Forschung beizuziehen. Dazu gehört auch die kritische Auseinandersetzung mit dem Kulturbegriff selbst. Dieser wird vorliegend verwendet, um das Projekt namentlich von Untersuchungen abzugrenzen, die sich mit der Versorgung von anderweitig vulnerablen Patientinnen (z.B. Kinder, Inhaftierte, Menschen mit Behinderung oder hochbetagte Patienten) oder mit anderen Formen von Diversität in der Medizin (z.B. Gender-Medizin) befassen.