Ursprünglich wollte Chiara Skirl eine Karriere im diplomatischen Dienst verfolgen. «Ich hatte mein Leben von Beginn des Bachelorstudiums bis zu meinem 30. Lebensjahr durchgeplant und wusste genau, was ich erreichen wollte», erklärt sie und lacht dabei herzlich. Nach dem Master mit Fokus auf internationalem Recht an der Universität Zürich absolvierte sie ein achtmonatiges Praktikum an der Schweizer Botschaft im Kosovo. Dabei wurde ihr jedoch klar, dass ihr die klassische juristische Arbeit doch etwas fehlte und sich ihre Prioritäten verändert hatten. Schliesslich wurde sie auf eine Ausschreibung an der Professur für Staats- und Verwaltungsrecht von Prof. Markus Schefer in Basel aufmerksam. Die Option einer Dissertation hatte sie schon vorher ins Auge gefasst. Ausserdem reizte sie die Vorstellung, sich nach einer längeren Pause wieder vertieft mit juristischen Fragen zu befassen.

Strategische Prozessführung

Auf einer Tagung 2021 hörte Skirl zum ersten Mal vom Konzept der strategischen Prozessführung. Dieses entstand in den 1950er Jahren in den USA im Rahmen der Bürgerrechtsbewegung. Strategische Prozessführung bedeutet, mit einer gezielten Auswahl an Fällen gerichtliche Entscheidungen zu erwirken, um politische oder gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen. Dabei spielen nicht nur juristische Argumente eine Rolle, sondern auch die Einbindung der Medien, von NGOs und der Wissenschaft.

Das in den USA bereits etablierte Konzept beginnt nun auch in Europa Fuss zu fassen, in der Schweiz ist es jedoch noch wenig erforscht. Mit ihrer Dissertation möchte sie diese Lücke schliessen.

Es gibt zwar erste Fälle, wie die der KlimaSeniorinnen oder den Dosto-Fall des Verbands Inclusion Handicap, aber das Thema hat bisher nur begrenzte Aufmerksamkeit erhalten.

Dosto-Fall

Im Dosto-Fall reichte der Dachverband der Behindertenorganisation «Inclusion Handicap» eine Beschwerde gegen die Zugänglichkeit der FV-Dosto-Doppelstockzüge der SBB für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen ein. Das Urteil betont die Bedeutung der Barrierefreiheit im öffentlichen Verkehr und verlangt eine umfassende Untersuchung der Sicherheit und Zugänglichkeit der betroffenen Zugbereiche. Das Bundesgericht hiess die Beschwerde in Bezug auf den Ein- und Ausstiegsbereich gut. Zum Urteil

Ein Beispiel für den Einsatz strategischer Prozessführung in der Schweiz ist das Projekt we claim des Dachverbands der Behindertenorganisationen Inclusion Handicap. Dazu ist geplant, die Prozesse während sechs Jahren auf bestimmte Themenbereiche (Bildung, Arbeit, Dienstleistungen Privater, Öffentlicher Verkehr) zu fokussieren. Im Bereich Bildung unterstützte we claim beispielsweise eine angehende Studentin mit Dyslexie, die Veterinärmedizin studieren möchte. Eine Verlängerung im Sinne eines Nachteilsausgleichs für die Zulassungsprüfung zum Medizinstudium wurde ihr von der Universität Bern verweigert. Sie legte Beschwerde ein, die im Mai 2024 vom Bundesgericht gutgeheissen wurde.

Das Projekt

Skirl möchte in ihrer Dissertation das Konzept der strategischen Prozessführung definieren und untersuchen, wie es in der Schweiz verstanden und angewendet wird. Bisher gibt es keine einheitliche Auffassung darüber, welche Elemente stets Teil strategischer Prozessführung sind. Darüber hinaus widmet Skirl sich den Auswirkungen strategischer Prozessführung. Ein erster Anknüpfungspunkt sind die bereits erfolgten Fälle aus dem Projekt we claim sowie der Fall der KlimaSeniorinnen.

Skirl sieht dabei auch die Gefahr, dass solche Verfahren zu heftigen Gegenreaktionen führen können. Der KlimaSeniorinnen-Fall, der vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im April 2024 entschieden wurde, hat zwar einen juristischen Erfolg gebracht, jedoch auch starke Kritik im schweizerischen Parlament hervorgerufen. Es wurden dabei sogar Forderungen laut, die Europäische Menschenrechtskonvention zu kündigen. Skirl sieht hier möglicherweise einen Fall von Gewinn ohne Erfolg: Man gewinnt zwar vor Gericht, aber verliert gleichzeitig politisch. Auch die Möglichkeit, dass Unternehmen strategische Prozessführung für kommerzielle Zwecke nutzen könnten, sieht sie kritisch.

KlimaSeniorinnen

Die Gruppierung «KlimaSeniorinnen» hatte vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eine Klage gegen die Schweiz eingereicht. Sie argumentierten, die Schweiz würde nicht genug im Kampf gegen den Klimawandel tun, was die Menschenrechte der Schweizerinnen und Schweizer verletze. Der EGMR stellte dann eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention fest. Zum Urteil

Neben ihrer persönlichen Motivation schätzt Skirl auch den Austausch mit anderen Doktorierenden an der Juristischen Fakultät Basel. So fördere die überschaubare Grösse der Fakultät den wissenschaftlichen Diskurs und liefere wichtige Anregungen und Rückmeldungen für ihre eigene Forschung.

Impact

Mit ihrer Dissertation möchte Skirl die öffentliche Wahrnehmung von strategischer Prozessführung verbessern und das Vertrauen hierin stärken.

Es ist mir wichtig, dass durch meine Arbeit deutlich wird, dass Gerichte nicht instrumentalisiert werden, sondern eine wichtige Rolle im demokratischen Prozess spielen.

Schliesslich gehe es im Kern darum, wie die Menschenrechte vor Gericht weiterhin geschützt werden können. Skirl sieht in der zunehmenden Anwendung dieses Instruments eine positive Entwicklung. Sie ist sich aber auch bewusst, dass sie erst am Anfang ihrer Dissertation steht und sich ihre Perspektive zum Thema in den kommenden Jahren kontinuierlich weiterentwickeln wird.