/ Prof. Dr. Peter Jung, Maître en droit, Professor für Privatrecht
ius coronae - Ausserordentliche Umstände im Vertragsrecht
Die aktuelle Corona-Pandemie wirft erneut die Frage auf, wie das Vertragsrecht mit grundlegenden und unerwarteten Umstandsänderungen umgehen soll. Die nationalen Rechtsordnungen geben hierauf durchaus unterschiedliche Antworten.
Ausserordentliche Umstände wie die Corona-Pandemie sind für das Vertragsrecht nichts Aussergewöhnliches. Verträge, die auf wiederholte oder einmalige Leistungen in der Zukunft gerichtet sind, werden von den Parteien nämlich immer vor dem Hintergrund bestimmter Erwartungen an diese Zukunft geschlossen, die dann durch unvorhersehbare und unabwendbare Entwicklungen durchkreuzt werden können. Die Gründe hierfür sind vielfältig und reichen von allgemeinen Krisenentwicklungen wie Krieg, Inflation oder eben Pandemie bis hin zu individuellen Ereignissen wie beispielsweise einer durch den Wankelmut des Brautpaares ausfallenden Trauung. Die veränderten Rahmenbedingungen können die von den Parteien versprochenen Leistungen erschweren oder den von ihnen verfolgten Vertragszweck vereiteln.
Das Vertragsrecht reagiert auf solche Umstandsänderungen überwiegend mit Ignoranz und weist das Risiko einer Fehleinschätzung künftiger Entwicklungen grundsätzlich dem hiervon jeweils betroffenen Vertragspartner zu, indem es ihn unverändert zur Vertragserfüllung anhält (pacta sunt servanda). Insbesondere die französische Rechtsprechung zum Privatrecht hat an diesem Grundsatz über mehr als ein Jahrhundert sehr strikt festgehalten. Nur wenn die Parteien im Vertrag etwas anderes vereinbart hatten oder sie hierzu vom Gesetzgeber z. B. durch ein Notfallgesetz ausdrücklich ermächtigt wurden, haben die Gerichte den Vertrag aufgehoben oder an die veränderte Situation angepasst. Während andere Privatrechtsordnungen wie die schweizerische, das französische öffentliche Recht und auch das Völkerrecht zur Problemlösung verschiedene Rechtsinstitute teils nebeneinander heranzogen, wurde dies in Frankreich überwiegend abgelehnt.
Der Autor dieses Beitrags hat sich seit seiner Dissertation immer wieder mit der Reaktion des Vertragsrechts auf unvorhersehbare Umstände rechtsvergleichend befasst. Der Blick in fremde Rechtsordnungen ist nicht nur wichtig, um einschätzen zu können, welche Lösung das ausländische Recht etwa zu einem durch die aktuelle Corona-Krise aufgeworfenen vertragsrechtlichen Problem für ihm unterworfene schweizerische Bürger oder Unternehmen konkret bereithält. Es waren auch rechtsvergleichende Studien und auf ihrer Grundlage erarbeitete Modellregelungen, die dem französischen Recht seine internationale Sonderstellung verdeutlichten. Sie veranlassten den französischen Gesetzgeber letztlich im Jahre 2016 auch dazu, im Zuge einer grundlegenden Revision des Obligationenrechts mit Art. 1195 Code civil eine allgemeine und international anschlussfähige Regelung zum Problem veränderter geschäftswesentlicher Umstände zu schaffen. Der anschliessend verlinkte Beitrag, der für den Band einer internationalen rechtsvergleichenden Tagung in französischer Sprache verfasst wurde, stellt die neue Bestimmung in den Kontext benachbarter französischer Rechtsinstitute und vergleichbarer ausländischer und supranationaler Regelungen.
Beiträge des Autors zu diesem Thema:
Peter Jung, L’interprétation supplétive et la théorie de l’imprévision – le nouveau droit français à la lumière des droits allemand et suisse, in: Mariola Lemonnier/Reiner Schulze/Dagmara Skupień (Hrsg.), La réforme du droit des contrats en France – refléxions de juristes européens, Łódź 2019 (Volltext s.u.).
Peter Jung, Die Bindungswirkung des Vertrages unter veränderten geschäftswesentlichen Umständen – Eine vergleichende Betrachtung des deutschen und französischen Rechts, Arbeiten zur Rechtsvergleichung, Bd. 173, Baden-Baden 1995.
Peter Jung, Regard comparatiste sur la proposition de loi visant la renégociation d’un contrat en cas d’imprévision, in: Goré/Grimaldi/Mazeaud/Vogel (Hrsg.), Liber amicorum – Mélanges en l’honneur de Camille Jauffret-Spinosi, Paris 2013, S. 695 – 717.